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Eine Gruppe gut gelaunter Mädchen, zwei von ihnen pusten Seifenblasen

Artikel Neue Westfälische: Verschleppung in den Ferien

Artikel Neue Westfälische | 30.06.2019

Experten warnen Mädchen vor Verschleppung in den Ferien - Betroffene erzählt

Verreist, verschleppt, verheiratet: Hilfsorganisationen fordern Lehrer zu Wachsamkeit auf, um zu verhindern, dass Schülerinnen in Herkunftsländern zwangsverheiratet werden.

Bielefeld. In den Sommerferien fliegen viele Kinder und Jugendliche mit ihrer Familie in das Herkunftsland ihrer Eltern oder Großeltern. Doch nicht alle kehren wieder zurück - weil sie von ihren Eltern zwangsverheiratet werden. Da Zwangsehen auch in Deutschland keine Einzelfälle sind, warnen Hilfsorganisationen Mädchen mit ausländischen Wurzeln vor Ferienverschleppungen. Als Fachberatungsstelle gegen Zwangsheirat in NRW hat das Mädchenhaus Bielefeld landesweit Schulen über die Gefahren informiert, um Pädagogen für das Thema zu sensibilisieren.

"Mit der Warnung wollen wir keine Panik verbreiten oder Bevölkerungsgruppen unter einen Generalverdacht stellen, sondern präventiv auf die Gefahr der Ferienverschleppung aufmerksam machen. Denn Zwangsheirat ist eine Menschenrechtsverletzung, die es mit aller Entschiedenheit zu bekämpfen gilt", erklärt die Leiterin der Fachberatungsstelle gegen Zwangsheirat in NRW, Sylvia Krenzel.

Lehrer und Schulsozialarbeiter haben in der Prävention und Intervention von Zwangsheirat laut Krenzel eine Schlüsselrolle, weil Schule oft der einzige Lebensraum für betroffene Mädchen und auch Jungen ohne familiäre Kontrolle ist. "Deshalb ist es wichtig, dass Lehrer und Sozialarbeiter wachsam sind und bereits bei einem Verdacht Kontakt zu uns aufnehmen", ergänzt Sevilay Inci-Kartal von der Beratungsstelle. Denn je eher die Fachberatungsstelle Mädchen unterstützen kann, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Hilfe. "Wenn die Mädchen erst in dem Herkunftsland sind, kann eine Rückkehr sehr schwer sein."

In Berlin sind besonders viele Fälle von Zwangsheirat bekannt

In Berlin sind Zwangsehen besonders weit verbreitet, deshalb warnt die Frauenbeauftragte Petra Koch-Knöbel Mädchen davor, auch nur bei dem geringsten Verdacht nicht in den Ferienflieger zu steigen. Um zu verhindern, dass auch dieses Jahr nach den Sommerferien wieder Plätze im Klassenzimmer leer bleiben, fordert Koch-Knöbel ein stärkeres Problembewusstsein bei Lehrern und Sozialarbeitern, denn bislang sei das Interesse an Fortbildungen sehr gering.

Die Soziologin Necla Kelek kämpft mit ihrer Menschenrechtsorganisation "Terre des Femmes" gegen Zwangsheirat. In Bielefeld warnte die Menschenrechtlerin erst kürzlich davor, dass die Zwangsheirat in Deutschland Alltag wird. "Durch Zwangsehen sind die Leben der betroffenen Mädchen komplett fremdbestimmt", sagt Kelek. "Da aber niemand diese Verbrechen anzeigt und diese auch nicht geahndet werden, lebt diese Tradition nach dem islamischen Familienrecht fort. Erst bestimmen Väter und Brüder über das Leben der Mädchen, später der Ehemann." Die Folgen für die Mädchen sind dramatisch: "Die Betroffenen sind oft sehr jung, werden innerhalb der Familie verheiratet und haben häufig keinen Zugang zu Bildung. Mit jeder Zwangsheirat wird ein Leben zerstört."

Kelek fordert deshalb neben der systematischen strafrechtlichen Verfolgung von Zwangsehen in Deutschland die Schaffung von Öffentlichkeit und Aufklärungskampagnen, vor allem in Moscheeverbänden. Mädchen, die aus diesen patriarchalischen Strukturen ihrer islamistischen Familien ausbrechen, ziehen den Hass ihrer gesamten Familie auf sich.

Yara sollte nach Pakistan verschleppt werden

Diese Erfahrung hat auch die 20-Jährige Yara gemacht, als ihr vor zwei Jahren die Zwangsheirat drohte. Doch vor der Verschleppung von Berlin nach Pakistan fand die damals 18-Jährige Zuflucht bei einer Freundin. Mittlerweile lebt Yara in Herford und führt das Leben, das ihr ihre Familie vor zwei Jahren nehmen wollte. „Ich bin jetzt glücklich, aber der Bruch mit meiner Familie hat mir das Herz gebrochen", erklärt Yara, die aus Angst vor Verfolgung ihren richtigen Namen nicht öffentlich nennen möchte.

An die Sommerferien bei der Verwandtschaft in Pakistan erinnert sich Yara eigentlich gerne zurück. „Es waren immer schöne Wochen bei meinen Großeltern, aber das hat sich vor drei Jahren geändert, als meine Schwester nicht wieder mit uns zurück nach Deutschland gekommen ist, weil sie mit einem entfernten Verwandten verheiratet wurde."

Yara und ihre Schwester sind fassungslos. „Wir haben nicht damit gerechnet, dass uns unsere Eltern so etwas antun würden, denn auch wenn sie sehr streng waren, dachten wir, dass sie uns lieben", erklärt Yara. „Wir haben geweint und gebettelt, aber sie haben meine Schwester einfach zurückgelassen. Ohne Pass, Handy und Geld in der Obhut eines völlig fremden Mannes."

Eltern rechtfertigen die Zwangsheirat der Tochter mit der Religion

Auf der Rückreise nach Deutschland versuchen die Eltern, die Zwangsheirat zu rechtfertigen. „Sie sagten mir, dass das islamische Familienrecht diese Art der Ehe vorsieht und sie sich nur das Beste für mich und meine Schwester wünschen." In den Gesprächen wird deutlich, dass Yara im nächsten Jahr ebenfalls in Pakistan zwangsverheiratet werden soll. Immer wieder sucht die damals 18-Jährige das Gespräch mit ihren Eltern, doch auch nach Monaten weichen sie nicht von ihrer Meinung ab. „Ich hatte solche Angst davor, dass sie mich auch nach Pakistan bringen, dass ich nur noch einen Ausweg gesehen habe."

Yara vertraut sich einer Freundin an und ihr neues Leben beginnt – ohne Familie. „Meine Freundin, ihre Eltern und die Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation haben mir dabei geholfen, ein neues Leben aufzubauen." Doch der Bruch mit den Eltern und der Verlust der Schwester bewegen Yara auch heute noch sehr. „Das war die schwierigste Entscheidung meines Lebens, aber wohl auch meine Rettung."

Im Mädchenhaus Bielefeld sprechen die Mitarbeiter der Fachberatungsstelle gegen Zwangsheirat in NRW regelmäßig mit Betroffenen wie Yara. 150 Fälle sind es pro Jahr. „Häufig stammen die Betroffenen aus Familien mit strengen patriarchalen Strukturen, die die Zwangsheirat mit Tradition oder Religion begründen oder auch als Disziplinierungsmaßnahme nutzen, wenn sich Kinder anders verhalten, als sich ihre Eltern das wünschen", erklärt Leiterin Krenzel.

Die meisten Betroffenen sind Mädchen zwischen 16 un 21 Jahren

Die meisten Betroffenen sind Mädchen zwischen 16 und 21 Jahren. „Vor Ferienverschleppungen spüren Mädchen häufig, dass etwas nicht stimmt. Können die Gefühle und Informationen aber nicht einordnen oder verdrängen sie", ergänzt Mitarbeiterin Inci-Kartal. „Trotz des Wissens ist es jedoch vielen Betroffenen nicht möglich, Nein zu sagen. Sie sind zerrissen, weil das Nein zu einer Zwangsheirat auch den Bruch mit der Familie bedeuten kann."

Zudem herrscht großer Druck: „In vielen Fällen üben Eltern psychische oder körperliche Gewalt aus. Teilweise werden auch Morddrohungen ausgesprochen, weil das Wohl der Familie über dem Wohl des Einzelnen steht." Problematisch ist auch, wenn Mädchen kein anderes Lebensmodell kennen. „Das beobachten wir vor allem bei Betroffenen, die noch nicht lange in Deutschland leben", erklärt Inci-Kartal. „Auf der anderen Seite sind auch Mädchen betroffen, die nicht kontrolliert werden, sondern studieren, alleine leben und einen Partner haben, aber irgendwann von den Eltern zwangsverheiratet werden sollen." Nach Angaben von Krenzel ist jeder Fall individuell. „Doch hinter jedem Fall steht eine Menschenrechtsverletzung."

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